Was Trauernde empfinden könnten

Was Trauernde empfinden könnten

Stell Dir vor, Du gehst wie jeden Tag in den Supermarkt, bist mit Deinen Gedanken schon bei dem Abendessen, welches Du für Deine Familie zubereiten möchtest. Du freust Dich darauf, am Abend mit Deiner Familie am Tisch zu sitzen und den Gesprächen zu lauschen, was ein jeder erlebt hat.


Plötzlich fällt Dir ein Junge auf, der mit Tränen in den Augen vor dem Obstregal steht und so wirkt, als wüsste er nicht recht, was er dort soll. Er nimmt einen Apfel in die Hand und legt ihn wieder hin, dasselbe wiederholt er bestimmt mit noch fünf anderen Obstsorten. Sein Blick wird immer wehmütiger und plötzlich rollt eine kleine Träne über seine Wangen.


Vielleicht ist er in Gedanken wie Du, bei einem gemeinsamen Abendessen.

Doch vielleicht bleibt auch ein Platz an diesem Tisch leer. Der Platz seiner Mutter, mit der er immer das schönste Obst eingekauft hat. Vielleicht überrennen ihn gerade in dem Moment die Erinnerungen und seine kleine Seele schreit nach seiner Mama....


Stell Dir vor, Du gehst mit Deiner Freundin durch die Stadt. Ihr bummelt, wollt den wunderschönen Tag genießen und sucht aufgeregt erzählend das nächste Eiscafe, um Euch von den Strapazen der Woche zu erholen.

Plötzlich läuft ein kleines Mädchen auf Dich zu, schaut Dich mit großen, fragenden Augen an. Dieser Blick ist voller Sehnsucht, voller Hoffnung, und sie steht vor Dir und fragt leise: "Papa?"

Deine Freundin schaut Dich an, ihr Blick wirkt verwundert, fragend...

Vielleicht hast Du Ähnlichkeit mit dem Papa dieses kleinen Mädchens, welches sich jetzt mit herunterhängenden Schultern wieder von Dir abwendet und still seines Weges geht. Vielleicht hat Dein Lachen, Dein Gang sie an ihren Papa erinnert, der niemals zurückkommen wird...



Stell Dir vor, Du möchtest ein neues Sofa kaufen. Eines, auf dem Deine ganze Familie Platz hat.Auf dem Ihr gemeinsame Abende verbringen könnt, eng aneinander gekuschelt dem abendlichen Fernsehprogramm lauscht. Wo Du später am Abend dann mit Deiner Frau bei einem gemütlichem Glas Wein den Abend ausklingen lässt. Du schlenderst durch das Kaufhaus und begutachtest all die unterschiedlichen Möbel.


Plötzlich fällt Dir ein alter Mann auf, der in einem Sessel gedankenverloren, scheinbar völlig abwesend dasitzt. Sein Blick wirkt, als wäre er meilenweit weg.


Ein tiefer Seufzer kommt aus seiner Brust und er wirkt gebrochen und zerbrechlich.


Vielleicht vermisst er seine Frau, die nach langem Kampf gegen den Krebs aufgeben musste. Vielleicht ist er in Gedanken bei jenem letztem Atemzug, bei dem er ihre Hand gehalten und ihr leise zugeflüstert hat: "Geh, ich folge Dir bald, hab keine Angst mein Engel".


Vielleicht ist er in dieses Möbelhaus gekommen, um die Erinnerung noch einmal lebendiger werden zu lassen, daran, als er das letzte Mal mit ihr hier war. Als sie sich einen Sessel aussuchen sollte, der bequemer war, als der alte Sessel. Damit sie keine Schmerzen mehr hat, wenn sie wieder von einer Chemo völlig kraftlos war....



Stell Dir vor, es ist Wochenende und Du freust Dich, dass Du endlich wieder einmal mit Deinen Freunden ausgehst. Ihr habt viel Spaß in der kleinen Kneipe an der Ecke. Lange schon warst Du nicht mehr so ausgelassen und fröhlich. Ihr habt gute Gespräche geführt, viel diskutiert und noch mehr gelacht. Der Alkohol hat Eure Stimmung noch mehr angeheitzt, Euch noch lockerer gemacht. Nun ist es schon spät und langsam verabschiedet sich ein Freund nach dem anderen. Auch Du bist langsam müde, ziehst Deine Jacke an und gehst auf die Straße. Plötzlich hörst Du die Frau, die oben auf dem Balkon steht und schreit: "Nein, nein nein!!!" Die Balkontür öffnet sich und ein Mann tritt hinter sie, nimmt sie sanft, aber bestimmt in den Arm. Ihre Gesichter sind tränenüberströmt und ihr Blick wandert langsam zum nachtschwarzen Himmel.


Vielleicht mussten sie eben erfahren, dass ihr Sohn einen Unfall hatte.


Vielleicht hatte er einen ebenso schönen Abend mit seinen Freunden.


Vielleicht hat er nicht bemerkt, wieviel sein Gegenüber, sein Fahrer, wirklich getrunken hat. Vielleicht stieg er in das Auto, ohne zu ahnen, dass er sein Zuhause niemals mehr erreichen wird...



Stell Dir vor, Du hast heute Hochzeitstag. Du möchtest Deiner Frau den schönsten Blumenstrauß holen, den der kleine Blumenladen anzubieten hat. Fröhlich und voller Vorfreude auf den Abend betrittst Du das Geschäft, wo Du ja schon Stammkunde bist. Du liebst das Strahlen in den Augen Deiner Frau, wenn sie mit einer Rose am Abend überrascht wird.


Es sind diese kleinen Gesten, die Eure Ehe jung halten, schon all die vielen Jahre hindurch.


Plötzlich fällt Dir auf, dass die nette Verkäuferin, die sonst immer gleich lächelnd auf Dich zukommt, stumm hinter ihrem Tresen sitzen bleibt. Sie schweigt und es scheint fast, als sieht sie durch Dich hindurch. Hat sie überhaupt bemerkt, dass Du den Laden betreten hast?


Vielleicht hat diese Verkäuferin vor einer Woche ihren Mann zu Grabe getragen. Den Mann, der sie oft mit Blumen überrascht hat, weil er doch wusste, wie sehr sie rote Rosen liebte. Vielleicht denkt sie gerade an ihn, an sein Lächeln, seine Stimme, seine Wärme. An die Gefühle, die Du so sehr auch mit Deiner Frau verbindest. Ihr Mann wird sie nie mehr überraschen können, ihr nie mehr zeigen können, wie dankbar er für die Frau an seiner Seite ist....



Stell Dir vor, Du hast einen Termin heute. Einen sehr wichtigen, einen, den Du lange geplant hast und auf den Du lange warten musstest. Doch heute ist der Tag, an dem Deine berufliche Beförderung endlich ansteht. Du sollst geehrt werden; endlich hat man in Deiner Firma nach all den Jahren erkannt, welch zuverlässiger und fleißiger Mitarbeiter Du bist.


Du bist stolz auf Deine Leistung und hast Deinen besten Anzug angezogen. Du steigst in Dein Auto, siehst auf die Uhr und weißt, Du hast noch eine Stunde Zeit, um die dreißig Kilometer zu schaffen. Dein Wagen rollt auf die Autobahn und Du gibst Gas, Du möchtest pünktlich sein.


Plötzlich geht die Warnblinkanlage des Wagens vor Dir an. Du fluchst, bitte kein Stau! Langsam setzt sich die Blechlawine wieder in Bewegung, und Du siehst vor Dir die Blaulichter über den nassen Asphalt spiegeln.


Dein Blick wandert nach links und Du siehst in der Leitplanke das Auto. Feuerwehrmänner versuchen mit angestrengten Gesichtern, das Fahrzeug transportbereit zu machen.


Vielleicht saß in diesem Wagen die Familie, die Du aus der Nachbarhaus kennst. Die Familie, mit den zwei netten, wohlerzogenen Kindern, deren Mutter Dich immer so nett gegrüßt hat? Vielleicht waren sie auf dem Weg, ihre Oma zu besuchen, die nun in froher Erwartung auf ihre Enkel wartet. Wo der Kaffeetisch liebevoll gedeckt ist. Die gerade auf die Uhr schaut und sich fragt, wo ihr Sohn mit den Kindern bleibt. Die einige Stunden später an diesem Tisch sitzt und sich verzweifelt nach dem "Warum" fragt. An einem Tisch, wo nie mehr lachende Kinderaugen von ihren Erlebnissen berichten....


Vielleicht sollten wir jeden Tag dankbar sein, für die kostbaren Momente des Lebens, in denen wir nicht unsere Liebsten beklagen müssen.

Vielleicht sollten wir uns nicht über den Stau ärgern, den Schrei in der Nacht, oder das angefasste und zurückgelegte Obst im Supermarkt.

Vielleicht sollten wir uns jeden Moment bewusst sein, dass es Menschen gibt, ganz in unserer Nähe, die am Anfang eines Albtraums stehen. Ein Albtraum ohne Erwachen, ohne Wiederkehr...


Vielleicht sollten wir offener sein für die Nöte und das Leid anderer....

Denn wie schnell bist Du der gebrochene Mann in dem Sessel, oder die Verkäuferin in dem Blumenladen....



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